Nur einen Sommer lang

Mit dem ersten lauen Frühlingswind traf sie ein. Ihr knallroter Regenmantel flatterte aufmüpfig im Wind und hinter sich zog sie einen altmodischen Koffer her, dessen Räder laut klackernd über das Pflaster rollten. Franka fühlte sich augenblicklich zu ihr hingezogen. Neugierig beobachtete sie diese kleine, energische Person von ihrem Kinderzimmerfenster aus, wie sie vor dem seit Jahren leer stehenden Geschäft abrupt stehen blieb und ein Plakat hervorzog: „Babettes wundervolle Eismanufaktur“ stand dort in großen, lustigen Buchstaben.

„Franka!“ 

Die Stimme ließ das Mädchen zusammen zucken. „Ja, Mama?“ 

Franka konnte schon an der Tonlage die Stimmung ihrer Mutter heraushören. Heute war wieder einer dieser „Moll“-Tage. Seit ihr Vater die Familie verlassen hatte, wurden sie häufiger. An „Dur“- Tagen konnte ihre Mutter der liebevollste Mensch sein, den Franka kannte.

„Franka, Schatz, du bist schon zurück?“
Als sie das Wohnzimmer betrat, betrachtete sie ihre Mutter, die noch immer im Schlafanzug da saß, mit wirrem Haar und einem glasigen Blick, der nirgendwo Halt fing. Sie hasste es, ihre Mutter so zu sehen. Einerseits tat sie ihr leid und andererseits wollte sie sie an ihren Schultern schütteln und anschreien: „Ich bin da!!! Nimm mich wahr!“ Stattdessen sagte sie nur: „Ja, schon eine ganze Weile.“

„Ich hab noch gar kein Essen fertig. Aber ich könnte dir ein Brot machen.“

„Danke, nein“, antwortete Franka. Für die „Moll“-Tage hatte sie sich einen Vorrat an Tiefkühlpizzen zugelegt, an dem sie sich jetzt bediente.

Eine Woche lang wurde in dem kleinen Café gegenüber gebuckelt und geschuftet. Dann war es endlich so weit und Babette eröffnete ihre wunderbare Eismanufaktur. „Heute Probiertag – jede Kugel 1 Euro“ stand auf einer Tafel kunstvoll mit Kreide geschrieben. Neugierig schlich sich Franka an der Eisdiele vorbei.

„Guten Mittag“, sagte Babette.

„Hallo“, erwiderte Franka schüchtern. Aber als sie in Babettes, honigbraune Augen sah, wurde ihr ganz warm ums Herz.

„Möchtest du nicht eine Kugel Eis probieren?“

„Ich habe leider kein Geld dabei.“

„Papperlapapp“, sagte Babette „du kannst mir ein wenig zur Hand gehen. Lass mich überlegen.“ Gedankenverloren strich sie sich mit ihrem Zeigefinger über die Nase und sah dabei prüfend über ihre Eissorten.

„Hmmh, ich glaube Bratapfel mit einem Hauch von Liebstöckel und etwas Zimt für das Gemüt“, murmelte sie vor sich hin. Dann formte sie eine große Kugel Eis, drehte sich zur Wand, an der eine riesige Auswahl mit Dosen verschiedenster Gewürzen stand und verzierte die Kugel zu guter Letzt mit Schlagsahne und Zuckerstreusel. 

Franka war baff.

„Na los! Jetzt nimm schon“ sagte Babett aufmunternd. „Ich könnte übrigens eine Aushilfe gebrauchen. Wenn du möchtest, könntest du mir nachmittags ein wenig zu Hand gehen. Natürlich gegen Bezahlung und eine Kugel Eis.“ Babette strahlte sie an. 

Franka nahm die Eiswaffel vorsichtig entgegen und schleckte daran. Da explodierten sämtliche Geschmacksnerven auf ihrer Zunge. Niemals in ihrem Leben zuvor hatte sie etwas so Köstliches gegessen. Ein helles Glücksgefühl durchströmte ihren Körper. Sie sank auf einen Stuhl und überließ sich ganz diesem wunderbaren Gefühl. Als sie ihr Eis verzehrt hatte, drehte sie sich um und bemerkte, wie Babette sie zufrieden beobachtete.

„Also gut. Was soll ich tun?“, fragte Franka.

„Du könntest drinnen die Tische decken.“ Babette lächelte. 

Franka nickte und trat in das kleine Café. Vor Staunen fiel ihr das Kinn herab. Babette hatte ganze Arbeit geleistet. Hier war eine Oase des Wohlfühlens entstanden. Babette überreichte Franka kleine mit frischen Blumen gefüllte Vasen. 

„Die könntest du auf den Tischen verteilen.“ 

Franka machte sich mit Feuereifer an die Arbeit. 

„Du darfst dich überall umsehen, nur eines versprich mir.“ Babette sah ihr tief in die Augen. „Du darfst niemals die Tür im Keller öffnen, auf der ‚Privat` steht!“

Franka nickte. „Ich verspreche es.“

Ein Schauer überfiel sie. Sie schüttelte sich und deckte die Tische.

Die Monate vergingen und langsam zog der Herbst ins Land. Franka brachte ihrer Mutter jeden Tag eine Kugel Eis. Und dank Babettes wunderbarer Rezeptur wurden die „Moll“-Tage weniger.

Franka war glücklich. Nur etwas nagte an ihrem Herzen. Was nur zum dreimal vermaledeiten Kuckuck war hinter dieser verbotenen Tür? Jedes Mal, wenn sie Getränke aus dem Keller holte, hörte sie dahinter ein seltsames Schnarren. Warum nur durfte sie nicht hinein schauen? Wenigstens nur einen winzigen Spalt? Babette würde es nie merken.


Eines Tages hielt sie es nicht länger aus. Leise drückte sie den Türgriff herab und lugte vorsichtig mit einem Auge hinter die Tür. Franka brauchte einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit hier unten gewöhnt hatten. Als sie erkannte, was da hinter der Tür stand wurde ihr schwarz vor den Augen und sie sank ohnmächtig zu Boden.


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